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AUTOR
Helmut Breidenstein
"Mozarts
‚Vesperae
solennes de Dominica’, KV 321: eine Beispielsammlung
für Tempi
seiner Kirchenmusik"
Die trotz
ihrer großen
Schönheit selten aufgeführte Dominica-Vesper ist
für
die Frage der Tempi bei Mozart ein Kompendium interessanter
Beispiele. Bis auf das unbezeichnete „Laudate
pueri“ im 4/2-Takt
und die kurze Adagio-Einleitung des
„Magnificat“ sind alle
Sätze Allegro. Sind sie alle
gleich schnell? Das
„Dixit“ ist zwar Allegro vivace 4/4
(wie das „Gloria“
der c-moll-Messe); - ist es aber so schnell wie der 1. Satz der
„Jupiter“-Sinfonie? Das „Beatus
vir“ und der Hauptteil des
„Magnificat“ sind Allegro 4/4;
- sind sie so schnell wie
die 1. Sätze der Konzerte oder der „Kleinen
Nachtmusik“? Und
ist das Allegro 3/4 des
„Confitebor“ und der Sopran-Arie
„Laudate Dominum“ so schnell wie der 1. Satz der
Es-Dur Sinfonie
KV 543?
Ein Teil der Antwort wird von Theoretikern des 18.
Jahrhunderts gegeben (die sich in diesem Punkte alle einig sind):
„Eben die Benennungen, welche Lebhaft und Lustig in
dem Opern-
oder Concertstyl andeuten, muß man beym Vortrage der
Kirchenmusik [...] für minder lebhaft und lustig nehmen. Das
Allegro sollte also billig in dieser Art der Komposition allezeit
etwas langsamer vorgetragen werden, als in Concerten oder
Opern
gewöhnlich ist.“ (Karl Avison, 1772). In
heutigen
Aufführungen von Kirchenmusik wird dennoch oft versucht, das
brillante Allegro der klassischen
Sinfonik zu übernehmen
oder sich an der sehr raschen Puls-Vorgabe Johann Joachim
Quantz‘
für seine virtuose Kammermusik zu orientieren.
Doch
nicht nur die Tempoworte hatten damals in der Kirchenmusik eine
andere Bedeutung als in der weltlichen; auch das Eigentempo der
Taktarten differierte: „Ueberhaupt wird jede Taktart
in der
Kirche schwerer vorgetragen, als in der Kammer, oder auf dem Theater“
(Joh. Abraham Peter Schulz, 1774). Dies betraf in erster Linie den
4/4-Takt: in der Salzburger Kirchenmusik war zu Mozarts Zeit noch der
langsame, vom Generalbass bestimmte 4/4-Takt des Barock Tradition; in
der weltlichen Musik dagegen herrschte bei jüngeren
Komponisten
schon ausschließlich der aus Italien kommende moderne, leicht
schwebende, 4/4-Takt der Klassik. „Der
Viervierteltackt, der
durch C bezeichnet wird, ist zweyerley. Er wird entweder statt des
4/2 Tackts, mit dem Beywort grave gebraucht, und wird alsdenn der
GROSSE VIERVIERTELTACKT genennet, oder er ist der sogenannte gemeine
gerade Tackt, der auch der kleine Viervierteltackt genennet wird. Der
grosse Viervierteltackt ist von äußerst schwerer
Bewegung
und Vortrag, und wegen seines Nachdrucks vorzüglich zu grossen
Kirchenstücken, Chören und Fugen
geschickt.“ (Joh.
Philipp Kirnberger, 1776)
Genau das finden wir im
„Beatus vir“ und im
„Magnificat“ der Vesper. Im Unterschied
zum halbtaktigen Puls des klassischen Allegro 4/4
haben sie 4
Schwerpunkte pro Takt sowie viele 32tel und 64tel, die es dort wegen
des schnelleren Tempos nicht geben kann. Paradigma für den
‚großen‘ 4/4 ist die
„Kyrie“-Fuge des Requiems mit
ihren gewichtigen 16tel-Koloraturen (wie die
„Pignus“-Fuge der
Litanei KV 243). Auch die lebhaftere Bewegung des
„Dixit“ (und
des „Gloria“ in KV 427) wird durch das Gewicht des
‚großen‘
4/4-Taktes reduziert.
Den 3/4-Takt gibt es ebenfalls in
„zweyerley“ Art: den
„leichten“, ganztaktigen, und den
„schweren“ (Fr. W. Marpurg) mit drei Harmonien pro
Takt. Das
„Confitebor“ der Vesper ist ganztaktig (nicht ohne
passagenweise
in den „schweren“ 3/4 zu wechseln), das
„Laudate Dominum“ mit
seinen virtuosen 16tel-Koloraturen hat drei Taktschwerpunkte (nicht
ohne gelegentlich in die „leichtere“ Ganztaktigkeit
zu
verfallen). Natürlich gehorchen beide der Regel, dass die
Viertel im 3/4 schneller „gehen“ als im 4/4-Takt.
Das
„Laudate pueri“ schließlich ist Mozarts
einziger 4/2-Takt
mit Orchester. Wie alle ¢ des stile antico hält
es sich an die von den Lehrbüchern vertretene Regel,
¢ sei
„doppelt so schnell“ - zu ergänzen ist:
als der ‚große‘
4/4-Takt. (Wie wir wissen, gilt diese Regel nicht für Mozarts
weltliche ¢-Sätze).
Diese in KV 321 gebündelt
auftretenden Beispiele stehen für fast 100 Stücke im
‚großen‘ 4/4-Takt und 50 im
‚schweren‘ 3/4 in den
übrigen Kirchenwerken. Ihre Kenntnis befreit von vielen
Tempo-Zweifeln.
Siehe auch
den Artikel "Worauf
beziehen sich Mozarts Tempobezeichnungen?"
unter diesem Link, sowie die wissenschaftlich detaillierten
Aufsätze:
"Mozarts Tempo-System. Zusammengesetzte Takte als
Schlüssel" in "Mozart-Studien" Bd. 13 (Hg.
Manfred Hermann Schmid, Tutzing 2004, S. 11-85),
"Mozarts
Tempo-System II. Die geraden Taktarten", Teil 1 + 2 in "Mozart
Studien Bd. 16, S. 55-99 (Juli 2007) und Bd. 17
(Frühjahr
2008), und den Artikel
"Mälzels Mord an Mozart. Die
untauglichen Versuche, musikalische Zeit zu messen" unter diesem link und in: "Das
Orchester", 2007, Nr. 11 (Schott/ Mainz).
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ich zu geben versuche, könnten sehr von einer breiten
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