Mozart´s Tempo-System |
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Worauf beziehen sich Mozarts
Tempobezeichnungen? ABSTRACT: Drei Viertel aller Tempobezeichnungen Mozarts beziehen sich nicht auf eine "Zählzeit". Musiktheoretische Texte des 18. Jahrhunderts und prägnante Werkbeispiele zeigen, dass es Mozart um mehr ging als das physikalische Tempo: Taktarten, kleinste Notenklassen und Tempowörter bildeten gemeinsam ein komplexes System von über 300 Modulen zur Bestimmung von Betonungsgefüge, Geschwindigkeit, Charakter, Artikulation, Agogik und Spielart, des "Mouvement" im weitesten Sinne. ***** (Um
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markierten Zahlen in weichen Klammern. Danke!) Worauf beziehen sich Mozarts Tempobezeichnungen? Eine Frage, die sich wohl jeder Mozart-Interpret schon einmal gestellt hat. Beziehen sich Mozarts Tempobezeichnungen auf Achtel, Viertel oder halbe Takte? Viele meinen: "Die einzig sinnvolle Antwort ist: auf die Zählzeiten" (1). Lassen Sie uns diese Frage anhand einiger Beispiele untersuchen. Da Mozart vor der Erfindung des Mälzel’schen Metronoms komponierte, - und das ist kulturgeschichtlich kein Zufall - können wir ohne technische Krücken darüber nachdenken, wie seine Tempobezeichnungen zu verstehen sind. Wenn man seine Autographe genau betrachtet, lässt sich in nicht wenigen Fällen zeigen, wie ernst er das Thema nahm, wie er manchmal geradezu darum rang, seine Vorstellungen bezüglich Geschwindigkeit, Taktbetonungen und Spielart zu präzisieren. Z. B. schrieb er im 1. Satz der Posthorn-Serenade, KV 320, zuerst "Allegro", setzte dann "Molto" voran, strich dies durch und fügte "con spirito" hinzu. Das ursprüngliche "Allegretto" des Rondeaus änderte er in "Allegro ma non troppo" (sehen wir da noch einen Unterschied?). Beim 1. Satz der g-moll-Sinfonie, KV 550, wie beim Credo der Krönungsmesse ersetzte er sein "Allegro assai" durch "Molto Allegro". Beim 2. Satz der Sinfonie KV 338, fügte er dem "Andante di molto" in der Konzertmeisterstimme ein "più tosto Allegretto" hinzu (2), das "Andantino sostenuto" von Ottavios "Dalla sua pace" wurde zu "Andante". Besonders deutlich zeigt sich sein Ringen um die treffendste Bezeichnung beim 4. Satz des Streichquartettes in d, KV 421: Er strich sein ursprüngliches "Allegretto" und ersetzte es durch "Andante"; das strich er dann wieder durch und schrieb erneut "Allegretto" darunter; noch später ergänzte er dies mit hellerer Tinte um ein "mà non troppo"! Welch feine Nuancen - und Beispiele dieser Art gibt es noch weitere. Die oft geäußerte Meinung, es handele sich bei seinen verbalen Tempoangaben mehr oder weniger nur um Charakterbezeichnungen und er habe es offenbar so genau nicht genommen, lässt sich also kaum halten. Mozart hat sich selbst über die gelegentliche Wortklauberei lustig gemacht, wenn er über das Rondo des Flötenquartetts in A, KV 298, "Allegretto grazioso, ma non troppo presto, però non troppo adagio. Così-così-con molto garbo ed espressione", schrieb, - aber er schöpfte aus einem Vorrat von über 300 Modulen aus Taktart+ kleinster Notenklasse+ Tempowort, um das, was sie damals "Bewegung" oder "Mouvement" nannten, zu umschreiben. Wenn wir heute mit dem Begriff "Tempobezeichnungen" fast ausschließlich die Tempowörter meinen, übersehen wir, dass im 18. Jahrhundert das erste Mittel zur Tempobestimmung die Taktarten waren; jede Taktart hatte ihre eigene "natürliche Taktbewegung". Johann Philipp Kirnberger schreibt 1776 (3): "Ferner muß er [der Komponist] sich ein richtiges Gefühl von der natürlichen Bewegung jeder Taktart erworben haben, oder von dem was Tempo giusto ist. ... In Ansehung der Taktart sind die von größeren Zeiten, wie der Allabreve, der 3/2 und der 6/4 Takt von schwerer und langsamerer Bewegung als die von kürzeren Zeiten, wie der 2/4, 3/4 und 6/8 Takt, und diese sind weniger lebhaft als der 3/8 und 6/16 Takt. ... Schwerfällig und sehr ernsthaft ist der 3/2 Tackt, sanft und edel scheinet der Charakter des 3/4 Taktes zu sein, besonders, wenn er blos, oder doch meistentheils aus lauter Vierteln besteht. Der 3/8 Takt aber ist von einer Munterkeit, die etwas muthwilliges an sich hat." (4) Zahlreiche andere Quellen bestätigen, dass im 18. Jahrhundert 3/8-Takte schneller gespielt wurden als 3/4-Takte; dennoch hört man in Aufführungen oft keinerlei Unterschied zwischen Belmontes optimistischem "Hier soll ich dich denn sehen" (Andante 3/8) und seinem todtraurigen Duett mit Konstanze "Meinetwegen sollst du sterben!" (Andante 3/4). Ebenso werden die zweiten Sätze des Klavierquartetts in g, KV 478, des Klaviertrios in G, KV 564, und des Klavierkonzerts in Es, KV 482, (Andante 3/8) meist ebenso langsam gespielt wie Paminas "Tamino mein, oh welches Glück!" (5) oder der Fandango im 3. Finale "Figaro" (6) (Andante 3/4). Das zweite Element der Tempobestimmung waren die kleinsten temporelevanten (7) Notenwerte. Mehr noch als das oft missachtete Eigentempo der "großen" und "kleinen" Taktarten haben diese dazu beigetragen, dass Mozarts Tempobezeichnungen für inkonsistent gehalten werden. Was ist beim 3/4-Takt "Allegro"? Der erste Satz des Klaviertrios KV 542 mit seinen vielen Zweiunddreißigsteln kann nicht ebenso schnell sein wie die zweiten, bzw. dritten Sätze der Streichquartette KV 387, 428 und 465, die nur Achtel enthalten. Und was ist "Allegro" im 4/4? Leporellos "Register"-Arie "Madamina", die fast nur Achtel hat, muss natürlich schneller genommen werden als das Duett Nr. 22 "Oh statua gentilissima" mit seinen spiccato-Sechzehntel-Ketten. Hören wir noch einmal Kirnberger: "In Ansehung der Notengattungen haben die ... Stücke, worin Sechszehntel und Zweyunddreyßigtheile vorkommen, eine langsamere Taktbewegung, als solche, die bey der nemlichen Taktart nur Achtel, höchstens Sechszehntel, als die geschwindesten Notengattungen vertragen. ... Also wird das Tempo giusto durch die Taktart und durch die längeren und kürzeren Notengattungen eines Stücks bestimmt." (8) Was zunächst aussieht wie ein Widerspruch, sind in sich konsistente Unterkategorien des Systems: beim Allegro 4/4 gibt es 32 Sätze der Tempo-giusto-Kategorie "ohne 16tel" und 116 der Kategorie "mit 16teln"; beim Allegro 3/4 26 Sätze, die als kleinste Noten "nur 8tel" haben, 67 "mit 16teln" und einen - eben das Klaviertrio in E -, der u. a. wesentliche 32tel enthält. Johann Abraham Peter Schulz schreibt: "Ein Stük mit "allegro" bezeichnet, dessen mehreste und geschwindeste Noten Achtel sind, hat eine geschwindere Taktbewegung, als wenn diese Noten Sechzehntel sind, und eine gemäßigtere, wenn sie zwey und dreyßig Theile sind; so auch in den übrigen Gattungen der Bewegung." (9) Erst an dritter Stelle nach Taktart und kleinster Notenklasse folgte dann die Modifikation des tempo giusto durch beigegebene Tempowörter: "Hat der junge Tonsetzer erst das tempo giusto ins Gefühl, denn begreift er bald, wie viel die Beywörter largo, adagio, andante, allegro, presto, ... der natürlichen Taktbewegung an Geschwindigkeit oder Langsamkeit zusetzen oder abnehmen". (10) An Taktarten benutzt Mozart ¢, 2/4, 3/4, C; 3/8, 6/8 und 12/8 (11). Dazu kommen einige, die ich "virtuell" nennen möchte, weil sie aus dem Taktsigel nicht erkennbar sind: die unausgesprochenen 4/8-Takte, die Mozart (wie auch Haydn und Beethoven) stets als 2/4 notierte, und die ebenso wenig bekannte Abart des 6/8, die eigentlich aus zwei zusammennotierten 3/8-Takten besteht, - sowie neben dem ganztaktigen der "schwere Dreyviertheiltact" (Fr. W. Marpurg) mit seinen drei Schwerpunkten. Als Tempowörter dienen Mozart 97 verschiedene Bezeichnungen. Autograph überliefert sind allein 19 verbale Modifikationen von "Allegro", 17 von "Andante", 6 von "Allegretto", 4 von "Adagio", 5 von "Andantino", 3 von "Presto", 4 von "Menuett", bzw. "Tempo di Menuetto"; außerdem gibt es "marcia", "Moderato", "Largo" und "Larghetto", sowie als selbständige Bezeichnungen "Maestoso", "Vivace", "Grazioso" und "Cantabile", einige deutsche Bezeichnungen bei den Liedern nicht zu vergessen. (Mozarts autographe verbale Tempobezeichnungen) Ist nicht zu vermuten, dass er bei einem solchen Differenzierungspotenzial Sätze mit gleicher Tempobezeichnung dann auch in annähernd gleichem Tempo gespielt wissen wollte? Traditionelle Aufführungen des ersten Satzes der g-moll-Sinfonie und des vierten der "Jupiter"-Sinfonie (beide "Molto Allegro ¢") pflegen krass unterschiedliche Tempi zu haben. Das meist zu schnelle "Andante ¢" der Donna-Anna-Arie "Or sai chi l’onore" im "Don Giovanni" und das traditionell als "Adagio" gespielte "Andante ¢" der Ouvertüre differieren gelegentlich bis zu 100%. Zur autographen Überlieferung muss gesagt werden, dass von den insgesamt 2.569 Tempobezeichnungen Mozarts lediglich 1.435 von ihm selbst stammen (und nur diese lassen sich sinnvoll diskutieren). In 39% aller Fälle ist entweder das Autograph verschollen, oder es hat keine, oder eine Bezeichnung fremder, oft anonymer Hand, nicht einmal immer aus Mozarts Zeit. Weil "Urtext"-Ausgaben da manchmal nicht zuverlässig unterscheiden, sollte man immer die Neue Mozart Ausgabe zu Rate ziehen, in der nicht-autographe Tempobezeichnungen im Allgemeinen durch Kursivdruck gekennzeichnet sind oder im jeweiligen Vorwort oder Kritischen Bericht auf eine Quelle zurückgeführt werden, - was dem Interpreten dann erlaubt, selbst zu entscheiden, ob er das angegebene Tempowort oder die Taktart für Mozart gemäß hält. Leider wurde dieses in den Editionsrichtlinien festgelegte Prinzip nicht konsequent durchgehalten; in rund 150 Fällen (12) - darunter willkürliche Herausgeber-Zusätze - benötigt die Praxis dringend Aufklärung in den Nachtragsbänden der NMA. Worauf beziehen sich nun die Tempowörter Mozarts? Falls auf die "Zählzeiten", gälte es zu klären, was wir darunter verstehen: sind es die Nenner der jeweiligen Taktsigel? Offensichtlich nicht: im Adagio 4/4 zählt man nicht Viertel, sondern Achtel (aber nicht "adagio", sondern in einem Tempo, das etwa den Vierteln im Allegretto-4/4 entspricht), im Allegro 3/8 dagegen zählt man im gleichen Tempo punktierte Viertel. Beim schnellen ¢ wird in langsamen Halben, beim langsamen ¢ in fließenden Vierteln taktiert. "Zählzeiten" und Schlag-Einheiten sind nichts weiter als aufführungspraktische Hilfsmittel und mit den Tempowörtern nur sehr bedingt korreliert. Schon seit Mozarts Werke nicht mehr - wie zu seiner Zeit in Deutschland üblich - vom ersten Geiger oder vom Cembalisten geleitet wurden, (13) sondern im modernen Sinne von einem taktschlagenden Dirigenten (also bald nach seinem Tode), stellte sich unsere Frage, auf welche Schlag-Einheit oder Zählzeit sich das Tempowort bezog: auf Ganze, Halbe, Viertel oder Achtel? Diese Frage aber, die noch in neuester Fachliteratur auf Holzwege führt, war von Anfang an falsch gestellt. (14) Die Antwort kann nur sein: in den meisten Fällen weder noch! Hans Gál hat schon 1939 in seinem Artikel "The Right Tempo" darauf hingewiesen: "The solution of the whole riddle is that they [Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert] had not the slightest intention of connecting the tempo indications with the beat." Taktvorzeichnungen sind in der Klassik keine Dirigieranweisungen. (15) Und, obwohl Gál aus Wien kam, fügte er hinzu: "I have rarely met a musician who was aware of this fact." In der Tat handelt es sich eben um ein schnelleres oder langsameres Pulsieren m u s i k a l i s c h e r, nicht kapellmeisterlicher Zellen. Wie sagt doch Mattheson so schön: "Je weniger einer von der Music verstehet / je öfter wird er den Tact schlagen." (16) Zwanglos lassen sich die Tempowörter auf den "normalen" (d. h. 16tel enthaltenden) klassischen 4/4-Takt beziehen, die neutrale "Urform des modernen Taktes", dem sie quasi auf den Leib geschrieben sind: dort sind die Viertel im "Andante-4/4" "gehend" (wie schnell oder langsam auch immer, ein eigenes Thema), im "Allegro" "fröhlich", also schneller, im "Allegretto" etwas, im "Allegro assai" sehr schnell (wobei die "Zählzeit" hier schon in Halbe umspringt). Das scheint einfach, wenn es auch wegen der Vagheit der Begriffe für eine exakte Tempobestimmung nicht ausreicht. Problematischer - und Verursacher unserer Fragestellung - sind die erwähnten "virtuellen" Taktarten, allen voran der 6/8, den ich deshalb als Beispiel nehmen möchte für unsere Untersuchung. Hier führt die bestehende Alternative des "Zählzeit"-Bezugs auf entweder die Achtel oder die punktierten Viertel bei gleichem Tempowort zu einem Tempounterschied von 300 %. Betrachten wir folgende Tempi: Einerseits das Andante 6/8, Modell Pamina-Arie
ex. 1: Die Zauberflöte no 17 + ex. 2: Klaviertrio in G, KV 496, II
andererseits das Andante 6/8, Modell "Pace, pace"
ex. 3: Figaro, "Pace, pace", m. 275 + ex. 4: Cosi fan tutte, no 19 drittens das Andante 6/8, Modell Prager Sinfonie, KV 504, 2. Satz
ex. 5: Prager Sinfonie, KV 504, II + ex. 6: Entführung, no 9
Was gilt denn nun als "Andante 6/8": das langsame (und meist zu langsame) Tempo der Pamina-Arie und des Klaviertrios KV 496 oder das offensichtlich weniger langsame Tempo von Figaros "Pace, pace" und der Despina-Arie? Und wo stehen die Prager und Pariser Sinfonie, Osmins "Oh Engländer" und die angeführten Kammermusik-Sätze? Seit 200 Jahren wird nun darüber diskutiert – und nicht immer dicht genug an der Sache. "Andante" heißt "gehend": Wer geht ?? Der Professor vom Schreibtisch zum Bücherregal oder die Musik, eine körperlose Wesenheit? "Andante" war im 18. Jahrhundert "diejenige Bewegung des Zeitmaaßes, die zwischen dem Geschwinden und Langsamen die Mitte hält" (17), J. J. Rousseau nennt es dem "gracieux" entsprechend, Daniel Schubart "eine gehende Bewegung des Tacts, welche die angränzende Linie des Allegros küßt" (18). Erst im 19. Jahrhundert mit seiner schwergewichtigeren Musik bekam Andante die Bedeutung von "Langsam", die von da an die Mozart-Interpretation unheilvoll beeinflusste. Das Problem besteht bis heute: langsame Tempi werden oft weiterhin so verschleppt, dass den Interpreten nur noch das Außer-Acht-lassen von Wiederholungsvorschriften Rettung vor Langeweile verspricht. Ein Hauptmissverständnis dabei ist der Glaube, das "Gehen" des Andante sei physisch gemeint und bezöge sich auf die jeweiligen Taktteile - oder "Zählzeiten". Wenn man bei den obigen 6/8-Beispielen jeweils die halben Takte als Zählzeit nimmt, wird man sehen, dass man derselben Bezeichnung "Andante" dann mindestens drei ganz verschiedene Tempi zuordnen muss. Was aber ist dann mit Mozarts Modifikationen von "Andante", wie "con moto", "sostenuto", "moderato", "maestoso", "un poco adagio", "cantabile", "di molto", "più tosto Allegretto" - warum schrieb er sie nicht auch hier? Des Rätsels Lösung scheint mir zu sein, dass es sich beim Andante 6/8 des "Ach, ich fühl’s" und dem des "Pace, pace" um zwei gleich aussehende, aber völlig verschiedene Taktarten handelt: einen aus zwei 3/8-Takten zusammengesetzten 6/8 (Pamina-Arie, Klaviertrio in G, g-moll-Sinfonie) und einen "einfachen", aus dem triolisierten 2/4-Takt entstandenen 6/8 ("Pace, pace"). Das Modell "Prager Sinfonie" hat ebenfalls einen zusammengesetzten 6/8-Takt, aber ein etwas schnelleres Tempo, weil es – anders als die Stücke des Modells "Pamina-Arie" – keine temporelevanten 32tel-Noten enthält. Zusammengesetzte Taktarten Seit dem 18. Jahrhundert bis heute besteht hier allerdings eine große Begriffsverwirrung: viele Theoretiker verstanden und verstehen unter "zusammengesetzt" (oder auch "vermischt") die Taktarten 9/8, 12/8 und den "einfachen" 6/8, die eigentlich eher "unterteilt" heißen müssten, da sie nichts weiter sind als in Triolen-Achtel unterteilte 3/4-, 4/4- und 2/4-Takte. Andere, wie Koch, Kirnberger, Schulz, Weber, Fink benutzen die Bezeichnung "zusammengesetzt" für Taktarten, die tatsächlich aus zwei kleineren zusammengesetzt sind wie 4/4=2/4+2/4, 6/8=3/8+3/8 und 2/4=2/8+2/8. Ich möchte ihnen darin folgen, da mir scheint, dass das Wesen dieser für das Verständnis klassischer Werke so wesentlichen Taktarten so am besten getroffen wird. Da das Phänomen der in diesem Sinne "zusammengesetzten" Takte in der Literatur seit Ende des 19. Jahrhunderts kaum noch erwähnt wird (selbst nicht in neuesten Lexika wie dem Sachteil von "Musik in Geschichte und Gegenwart II", 1994-98, und dem "New Grove Dictionary of Music and Musicians" 2001), lassen Sie uns aus der Fülle der Erklärungen, die die Musiktheoretiker der Mozart-Zeit dazu gaben, im Rahmen dieses Aufsatzes einige wenige auswählen: Heinrich Christoph Koch (1749-1816, genauer Zeitgenosse Mozarts und Kenner seiner Musik, von Hugo Riemann als "einer der einsichtsvollsten Tonlehrer seiner Zeit" apostrophiert, dessen "Versuch einer Anleitung zur Komposition" von F. J. Fétis noch 1878 als das Beste beschrieben wurde, das bis damals erschienen sei). Er schreibt in seinem "Musikalischen Lexikon" von 1802: "Sechsachteltakt. Dieses Wort bezeichnet zwey Gattungen des Taktes, die wesentlich von einander verschieden sind, und zwar 1) die einfache vermischte Taktart, die aus dem Zweyvierteltakte entstehet, wenn jedem Viertel ein Punkt hinzugefügt wird, und 2) die aus zwey Dreyachteltakten zusammengesetzte Taktart, die sich von jener dadurch unterscheidet, daß in jedem Takte zwey gute und zwey schlimme Taktzeiten enthalten sind." (19) Johann Philipp Kirnberger in "Die Kunst des reinen Satzes in der Musik", 1776: "Ferner unterscheidet man einfache Tacktarten von den zusammengesetzten: Einfache sind von der Beschaffenheit, dass jeder Tackt nur einen Fuß [einen Schwerpunkt] ausmacht, der in der Mitte nicht getheilet werden kann; Zusammengesetzte Tacktarten hingegen können, da sie aus zwey einfachen zusammengesetzt sind, in der Mitte eines jeden Tacktes getheilet werden." (20) Und später: "Es giebt so wohl in dem geraden Tackt von zwey Zeiten als in dem Tripeltackt Melodien, in denen offenbar ganze Tackte wechselweise von schweren und leichtem Gewichte sind, so daß man einen ganzen Tackt nur wie eine Zeit fühlet. Wenn die Melodie so beschaffen ist, ... müssen nothwendig zwey Tackte zusammen genommen werden ... Denn wenn dieses Zusammenziehen nicht geschähe, so würde man ... eine Melodie von lauter schweren Schlägen bekommen, welches eben so wiedrig wäre, als eine Periode der Rede, die aus lauter einsylbigen Wörtern bestünde, deren jedes einen Accent hätte. Daher entstunden also die zusammengesetzten Tacktarten, nemlich der zusammengesetzte 4/4 aus zwey vereinigten 2/4, der zusammengesetzte 6/8 aus zwey vereinigten Tackten von 3/8, u.s.f. - Eigentlich geschiehet diese Zusammensetzung nur deswegen, daß die Spieler den wahren Vortrag treffen, und die zweyte Hälfte eines solchen Tacktes leichter, als die erste vortragen. ... Sonst sind die zusammengesetzten Tacktarten in Ansehung des schweren und leichten Vortrages und der Bewegung von den einfachen nicht verschieden." (21) Hier eine Liste von Beispielen aus verschiedenen Tempo-Gruppen im 6/8-Takt (22): Adagio 6/8 "einfach": Klaviersonate in F, KV 280, 2. Satz zusammengesetzt: Klavierkonzert in A, KV 488, 2. Satz Andante 6/8 "einfach":
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Allegretto 6/8 "einfach":
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Allegro 6/8 "einfach":
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In einer Veröffentlichung mit dem Titel "Mozarts Tempo-System. Zusammengesetzte Takte als Schlüssel" habe ich die Thematik ausführlich dargestellt (24). Eine in "einfache" 2/4 und virtuelle 4/8 differenzierende Liste seiner 395 Sätze im 2/4-Takt muss meiner Gesamtuntersuchung aller Tempobezeichnungen Mozarts vorbehalten bleiben. Sie wird sich dabei besonders den Sinfonie-Mittelsätzen im 2/4-Takt widmen, die mit Ausnahme von KV 183, 202 und 338 alle im virtuellen 4/8-Takt stehen, - aber in Verkennung der leichteren "Taktbewegung" "kleiner" Taktarten oft wie 4/4-Takte mit doppelten Notenwerten, d. h. zu langsam gespielt werden. Wie lautet nun die Antwort auf unsere Frage der Bezugseinheit der Tempowörter? Erinnern wir uns an Kirnberger: "Also wird das Tempo giusto durch die Taktart und durch die längeren und kürzeren Notengattungen eines Stücks bestimmt. Hat der junge Tonsetzer erst dieses ins Gefühl, denn begreift er bald, wie viel die Beywörter largo, adagio, andante, allegro, presto ... der natürlichen Taktbewegung an Geschwindigkeit oder Langsamkeit zusetzen oder abnehmen". Deutlicher lässt es sich kaum sagen, welch nachgeordnete Rolle die Tempowörter spielen. All die beliebten Theorien aber, Mozarts Tempi bezögen sich auf den Puls (welchen? - 60/min. beim Frühstück, 80 bei der Probe, oder bis zu 120 bei der Aufführung?), den Atem, oder Schritte, und hielten untereinander Relationen wie 1:2, 1:3 oder 2:3 ein, müssen in ihrer naturalistischen Kunstferne vollkommen verfehlen, was die Musiker des 18. Jahrhunderts unter "Bewegung" oder "Mouvement" verstanden. (25) Selbst der geradezu obsessiv immer wieder als Zeuge für Pulsbezüge und Tempoproportionen missbrauchte Joachim Quantz (mit seiner für Schüler (!) gedachten Puls/Tempo-Tabelle) sagt über die Zeitmaße: "Es giebt derselben in der Musik so vielerley, daß es nicht möglich seyn würde, sie alle zu bestimmen". Und J. A. P. Schulz: "daß die Bewegung unendlicher Grade des Geschwinden und Langsamen fähig ist, die unmöglich durch Worte oder andere Zeichen zu bezeichnen wären." Oder Carl Czerny: "dass es, von der langsamsten Bewegung bis zur schnellsten, unzählige Abstufungen gibt, welche auf jede Taktart anwendbar sind." (26) So haben es wohl auch die meisten praktischen Musiker bisher gesehen. Dass der Aberglaube angeblicher "Tempo-Relationen" bei Mozart, - die von keinem Theoretiker des 18 Jh. erwähnt werden -, noch immer Anhänger findet, hat seinen Grund meiner respektlosen Meinung nach in der Tatsache, dass bei einem Tempoverhältnis 1:2 unmittelbar aufeinander folgender Tempi der Dirigent kein neues Tempo angeben muss, es also auch nicht "wackeln" kann (27). Für den Hörer, der nichts von der Notation weiß, läuft dann aber alles im gleichen Tempo ab. Ist es das, was Mozart vorschwebte, oder sind seine mehr als 300 Module aus Taktart + Notenklasse + Tempowort, nicht eher die Gliederung eines überreichen Kosmos von Geschwindigkeiten, Taktbetonungen und Spielweisen, - einer Vielfalt, wie sie auch seine Melodik und Harmonik, sein Rhythmus, seine Metrik, seine Formensprache aufweisen? Der Sinn der kombinierten "Tempo"-Bezeichnungen - oder: Warum macht Mozart es so kompliziert? Im neutralen Medium des "normalen" klassischen 4/4-Taktes konnte - wie ausgeführt - durch die Kombination von Notenklasse und Tempowort eine reiche Skala von Geschwindigkeiten bezeichnet werden. Der gleiche simple Bezug der Tempowörter auf die "Zählzeit" funktioniert auch beim "schweren" 3/4, dem "einfachen" 2/4 und dem daraus durch Triolisierung entstandenen "einfachen" (Kirnberger nennt ihn auch den "gebornen") 6/8-Takt. Alle diese Taktarten beziehen die Tempowörter auf die Taktteile - so wie wir es seit der Romantik gewohnt sind: die Viertel sind da tatsächlich im "Allegro" relativ "schnell" und im "Andante" "gehend" im Sinne von Schreiten. Die kleineren und größeren Taktarten, wie auch die zusammengesetzten, machen aber im 18. Jahrhundert durch ihr "natürliches" Eigentempo einen solch einfachen Bezug der Tempowörter auf die Taktteile unmöglich. Im Allegro ¢ sind die Halben keineswegs schnell und im Andante 3/8 die Achtel nicht langsam. Die Taktteile der "großen" Taktart ¢ sind beim gleichen Tempowort langsamer als die des 4/4-Taktes, die der kleineren Taktarten "4/8", 3/8, ganztaktiger 3/4 und "zusammengesetzter" 6/8 (3/8+3/8) sind schneller. Es gibt eine Steigerung des Tempos sowohl in den "Beywörtern" von "Largo" bis "Prestissimo" als auch unabhängig davon ebenso in den Taktarten von ¢ bis 3/8. Hier der Versuch eines Schemas, zunächst einmal nur für die langsamere Hälfte der Tempi:
Bei diesem Tempo-Vergleich zeigen sich viele Überschneidungen: die Viertel im Andante C haben etwa die gleiche Langsamkeit wie die im ganztaktigen "Larghetto 3/4"; im ganztaktigen "Andante 3/4" haben sie die mäßige Langsamkeit der Achtel im "Andante cantabile 3/8"; im "Andante 3/8" haben die Achtel die "muthwilligkeit" der Viertel im "Allegretto 4/4". Die ¢, 2/4- und "4/8"-Takte sind hier aus Platzgründen ausgelassen; in einer kompletten Aufstellung würde sich zeigen, dass die jahrhundertelang durch die Lehrbücher geisternde Lehrmeinung, der ¢-Takt sei "doppelt so schnell" wie der 4/4, auf den klassischen konzertanten 4/4 Mozarts und Haydns nicht zutrifft. (Die Definition bezieht sich auf den barocken "großen" 4/4 mit seinen 4 Taktschwerpunkten.) (28) Man nehme von zahlreichen Beispielen nur das Allegro ¢ der Zauberflöten-Ouvertüre zum Vergleich mit dem Allegro 4/4 der Introduction Nr. 1 ("Zu Hilfe! Zu Hilfe!"), oder das Andante ¢ "Bald prangt, den Morgen zu verkünden" gegen das Andante 4/4 "Heil sei euch Geweihten". Beide Beispiele machen mir aber auch die gegenteilige Meinung , dass bei Mozart kein Unterschied zwischen 4/4 und ¢ sei, nicht nachvollziehbar. Im Vergleich aller seiner Sätze in den beiden Taktarten zeigt sich, dass die Viertel des klassischen ¢ nicht doppelt, aber doch bedeutend schneller sind als die im 4/4-Takt. Als Faustregel
für die Geschwindigkeit lässt
sich angeben: Larghetto
¢ = Andante C,
Andante ¢ = Allegretto C, Allegretto ¢ = Allegro C. Warum haben Mozart und Haydn dieses komplizierte System nicht vereinfacht und zu unserer Erleichterung die Überschneidungen vermieden? Der Grund liegt darin, dass alle diese Taktarten, Notenklassen und "Beywörter" verschiedenen Satztypen, Satz-Modellen, zugeordnet sind und verschiedene Spielarten fordern. "Jeder Takt hat seinen eigenen Vortrag und seine eigene natürliche Bewegung, ... daß es folglich gar nicht gleichgültig sey, in welchem Takt ein Stük geschrieben und vorgetragen werde." (29) Daniel
Gottlob Türk
sagt 1789 in seiner "Klavierschule" zur Förderung
eines "logisch richtigen Vortrages": Zur
Spielart, die die "Beywörter"
fordern, gibt Joh. Friedrich Reichardt 1776 ganz
konkrete
Anweisungen: - So ist der Bogenstrich im Adagio sehr verschieden von dem im Allegro, und unterscheidet sich hauptsächlich dadurch, daß jener mehr auf den Saiten ruhen bleibt, als der im Allegro. Nichts als eine Pause muß im Adagio den Bogen ganz von den Saiten bringen. Selbst bey den Noten die mit einem Strich (I) zum Abstoßen bezeichnet, selbst bey den Abzügen, muß er im Adagio nicht völlig von den Saiten kommen, sondern mit einem Achttheile der Haare wenigstens darauf ruhen bleiben. - Bey dem Andante muß der Bogen die Leichtigkeit des Allegrobogens haben, ohne seine Schärfe, und in den Abzügen ohne seine Schnelligkeit. - Eben so auch beym Allegretto: nur bekommt der Bogen hier schon etwas mehr Lebhaftigkeit und zuweilen auch schon etwas Schärfe. - Bey dem Allegro aber ist endlich die Schärfe des Bogens in gestoßenen Noten, und die Schnelligkeit in den Abzügen höchst nothwendig. - Die verstärkte Ueberschrift wie z.B. Allegro di molto, Allegro assai, Presto, Prestissimo, geht blos auf die Bewegung und verändert im Charakter des Bogenstrichs nichts. Hiezu muß der Ueberschrift eine Benennung beygefügt werden, die den Charakter des Stücks bestimmt. Allegro e con brio, Allegro e con spirito, con fuoco, resoluto u.s.w. - Eben so auch machen die Ueberschriften, die die Geschwindigkeit des Allegro’s vermindern, wie z.B. Allegro mà non troppo, non tanto, moderato u.s.w. keinen Unterschied in dem Charakter des Bogens, sondern gehen blos auf die Bewegung. Steht aber cantabile, dolce oder sonst eine Benennung die den Charakter des Stücks näher bestimmt, so bezieht sich das auf den Bogen, und dieser muß sanfter und aneinanderhängender gehen. - Eben so zeigen sich bey den langsamen Sätzen die Ueberschriften maestoso, affettuoso, mesto, grave, an, daß die längeren Bogenstriche einen stärkeren, ausdrückendern Accent erhalten sollen, und dann müssen die Noten vor den Pausen nicht kurz abgezogen werden, sondern sich nur allmählich verlieren." (31) Und zur Dynamik: "Das forte im adagio ist von dem allegro sehr unterschieden. Dieses bekömmt durch das häufige Absto-ßen, und den scharfen Abzügen ein ganz anderes Ansehen: denn im adagio muß niemals etwas scharf abgezogen werden. Auch der Zug des Bogens muß im adagio weniger schnell seyn; und es bleibt also zur Stärke im adagio nichts als der Druck des Bogens." (32) Unübertrefflich
fasst Johann
Abraham Peter Schulz dies alles zusammen: Soll nun ein Stük einen leichten Vortrag, zugleich aber eine langsame Bewegung haben, so wird der Tonsetzer nach Beschaffenheit des leichten oder leichteren Vortrages einen Takt von kurzen oder kürzern Zeiten dazu wählen, und sich der Worte andante, oder largo, oder adagio etc. nachdem die Langsamkeit des Stüks die natürliche Bewegung des Taktes übertreffen soll, bedienen; und umgekehrt: soll ein Stük schwer vorgetragen werden, und zugleich eine geschwinde Bewegung haben, so wird er einen nach Beschaffenheit des Vortrags schweren Takt wählen, und ihn mit vivace, allegro oder presto etc. bezeichnen. Uebersieht ein erfahrner Ausführer nun die Notengattungen eines solchen Stüks, so ist er im Stande, den Vortrag und die Bewegung desselben genau mit den Gedanken des Tonsetzers übereinstimmend zu treffen; wenigstens so genau, als es durch keine andere Zeichen, durch keine Worte, und wenn sie noch so deutlich wären, angedeutet werden könnte.[...] Woher könnten doch wohl Tonkünstler von Erfahrung bey Anhörung eines Stüks, ohne Rüksicht auf die gerade oder ungerade Taktart, jederzeit genau wissen, in welchem Takt es gesetzt worden, wenn nicht jeder Takt etwas ihm Eigenthümliches hätte?" (33) "Vortrag" Man sieht, es geht bei den "Tempo"-Vorschriften des späteren 18. Jahrhunderts nicht nur um die physikalische Geschwindigkeit, um die wir uns so vorrangig zu sorgen pflegen, sondern als Ganzes um den "Vortrag". ¢, 3/4, 3/8, "4/8" und die zusammengesetzten 6/8 (3/8+3/8) geben eine eigene, nicht mit dem "regulären" 4/4-Takt übereinstimmende "Taktbewegung" vor. Diese wird durch die kleinste Notenklasse und die "Beywörter" modifiziert. "Tempobezeichnung" ist also - entgegen unserem Usus - nicht das Tempowort allein: Taktart, Notenklasse und Tempowort bilden gemeinsam etwas wie ein Modul zur Bestimmung sowohl des Betonungsgefüges als auch der Geschwindigkeit, des Charakters und der Spielart, - der "Bewegung", des "Mouvement" eben im weitesten Sinne. Fast drei Viertel aller verbalen Tempobezeichnungen Mozarts beziehen sich deshalb nicht auf eine "Zählzeit", - welcher Taktteil auch immer sich in der Praxis zum Zählen anbieten mag. Die Interpretationsarbeit wird dadurch nicht einfacher. Hans Swarowskis Behauptung, Mozart habe nur "zwei schnelle, ein mittleres und ein langsames Tempo" (34) ist ebenso wenig haltbar wie der verbreitete Glaube, Metronomangaben des 19. Jahrhunderts wie die von Tomaschek, Hummel, Czerny, G. Weber, Schlesinger und anderen zu Werken Mozarts gäben objektive Nachricht von seinen Tempi. Sie zeugen bestenfalls vom gewandelten Geschmack der Rossini-Zeit und sind für unser Mozart-Verständnis ganz ohne Belang. (35) Metronomisierungen jedweder Herkunft widersprechen dem Wesen klassischer Tempi prinzipiell (36). Die klassischen Tempi stammen aus einer noch nicht technifizierten-technikfixierten Zeit und sind darauf angelegt, sozusagen "in Handarbeit" vom Ausführenden selbst gefunden zu werden - wiewohl innerhalb eines hochdifferenzierten, komplexen Systems korrelierender musikalischer Parameter. (Metronom) Es bleibt nichts anderes übrig, als Mozart selbst zu befragen. Er hat sich zwar nur sporadisch und nicht immer klar in Briefstellen über Tempi geäußert - umso genauer nahm er es aber, wie wir sahen, mit den Bezeichnungen in den Partituren (37). Diese gilt es ebenso ernst zu nehmen wie die übrigen Elemente seiner musikalischen Sprache. Vom Interpreten wird damit mehr gefordert als Musikalität, Stilgefühl und Kenntnisse über die Bedeutung der Tempowörter im Allgemeinen. Er wird nicht umhin kommen, zum jeweils vorliegenden Satz innerhalb von Mozarts Gesamtwerk andere gleicher Taktart, Notenklasse und verbaler Bezeichnung aufzusuchen; fast immer wird er ähnliche finden, manchmal im gleichen Werk, meist in der gleichen Schaffensperiode, oft sogar einen vergleichbaren, den es so sehr "mit Gewalt in seine natürliche Bewegung treibt" (Leopold Mozart), dass sein Tempo keine Frage aufwirft. Gemäß ihrer verbalen Definition langsamere Sätze gleicher Taktart und Notenklasse können zusammen mit schnelleren als Referenz dienen. Nicht autographe Bezeichnungen können mit autographen abgeglichen werden. Neben Taktart, Notenklasse und Tempowort müssen harmonische Dichte und Metrik, Rhythmus, Artikulation, sowie gegebenenfalls Text, Versmaß und (mit besonderer Vorsicht!) die dramatische Situation bei der Betrachtung einbezogen werden. Adäquate Tempi für Kirchenwerke können sich von solchen für Kammermusik, und diese von Tempi in Opern und Sinfonien unterscheiden. Durch solche Vergleichsarbeit - und zwar jeweils ganzer Sätze - wird sich der Stellenwert des vorliegenden Werkstücks innerhalb des Gesamt-Systems klären; Metrik, Rhythmik und Tempowort werden gemeinsam eine verlässliche Basis für nicht nur "musikalischen" sondern - wie von Türk gefordert - auch "logisch richtigen" Vortrag legen. "Das einzig richtige", "authentische", metronomisch fixierbare, Tempo wird in diesem reichen, kunst- und lebensvollen System nicht zu finden sein, - aber für die Langeweile übereilter Tempi, die alle Details überrennen, ebenso wie für die geistige Hungerkur zu langsamer, wird man dort vergeblich eine Begründung suchen. Mozarts Musik lässt sich nicht in ein simples Schema einpassen; die kombinierten Chiffren für den Vortrag verlangen eine unendliche Vielzahl feiner Abstufungen des Tempos, der Betonung und der Spielart. Die über 300 verschiedenen Bewegungs-Modelle oder -Module sind, als nicht starr fixierbare, ein ideales Darstellungsmittel: präzise und gleichzeitig anpassungsfähig. Entschlüsselt helfen sie uns, seine auf dem Papier fixierte Musik in reale Schwingungen zu befreien, in wirkliche Zeit, unsere Zeit. Ziel dieses Artikels war es, Anregungen zu geben für eigene Quervergleiche innerhalb von Mozarts Musik; meine in Arbeit befindliche Untersuchung sämtlicher Tempobezeichnungen Mozarts wird Material und Hilfsmittel dazu beisteuern. Zwar brauchen viele Aspekte des erst betretenen Feldes noch weitere Nachforschung, weshalb eine lebhafte Diskussion die uns alle angehende Sache nur fördern würde. Letztlich aber kann es dann jedem Interpreten überlassen bleiben, innerhalb von Mozarts System das ihm an diesem Tage für dieses Stück in diesem Raum für sein Ensemble und sein Publikum als "richtig" erscheinende Tempo zu finden. **** Eine weiterer Aufsatz zum Thema: "Das Tempo in Mozarts und Haydns Chorwerken" unter diesem Link. **** >>> Ihre Meinung über meine Theorien, Ihre Anregungen, Einwände, Kommentare wären höchst willkommen. Die neuen Antworten auf die 200 Jahre alten Fragen, die ich zu geben versuche, könnten sehr von einer breiten Diskussion profitieren. Ich freue mich auf Ihre Mails!
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